Werte, die niemand aushält, sind keine Werte. Sie sind Kulisse.
Ich habe das in den letzten 2 Monaten zweimal erlebt. Zwei Situationen, die sich eingebrannt haben. Weil sie ehrlicher waren als jede Leitbildfolie.
Erstes Beispiel. Ein Kunde aus dem Mittelstand. Saubere Website. Klare Werte. Respekt. Wertschätzung. Transparenz. Führung auf Augenhöhe. Alles dabei. Ich sitze im Haus, warte auf den nächsten Termin. Eine Bewerberin kommt aus dem Gespräch. Sie geht Richtung Ausgang. Dreht sich noch einmal um und sagt laut, hörbar für mehrere Mitarbeitende: „Die Firma hier kann sich ihre Werte von der Webseite in den Arsch schieben.“
Das war kein Ausrutscher. Das war ein Feedback. Brutal. Aber präzise. Diese Frau hat in einem einzigen Gespräch gespürt, dass zwischen Anspruch und Verhalten eine Lücke klafft. Keine Wertschätzung. Keine Augenhöhe. Kein Respekt. Und sie hatte den Mut, das auszusprechen. Die Organisation hatte ihn vorher nicht. Genau hier zeigt sich, was Werte wirklich sind. Nicht das, was Sie formulieren. Sondern das, was Fremde nach einer Stunde Begegnung erleben.
Zweites Beispiel. Vorstandssitzung. Hoher Anspruch. Klare Governance. Ein Geschäftsführer präsentiert zweieinhalb Stunden vor dem Vorstand. Zahlen. Strategie. Perspektiven. Er kämpft. Man spürt es. Dann kommt die Mitteilung. Seine Position als Geschäftsführer wird ihm entzogen. In 4 Wochen ist er seinen Posten los.
Ich stelle eine einfache Frage in den Raum: „Haben Sie diese Entscheidung schon vor diesem Termin getroffen?“ Die Antwort kommt etwas zögerlich: „Ja.“
Ich habe selten eine respektlosere und unprofessionellere Vorgehensweise erlebt. Das hatte nichts mit Führung zu tun. Das war Machtausübung. Und es war das Gegenteil von dem, was in diesem Unternehmen offiziell als Wert verkauft wird.
Werte zeigen sich genau in solchen Momenten. Wenn Macht im Spiel ist. Wenn Menschen betroffen sind. Wenn Ehrlichkeit unbequem wird.
Ich nehme mich da ausdrücklich nicht aus. Auch ich kenne die Versuchung, Dinge weich zu formulieren. Gespräche zu verschieben. Konflikte zu vertagen. Führung fordert Selbstführung. Jeden Tag. Und sie fordert Mut zur Klarheit.
Viele Führungskräfte glauben, Werte müssten verbinden. Das stimmt. Aber sie verbinden erst dann, wenn sie trennen dürfen. Ein Wert, der niemanden irritiert, verändert nichts. Wenn Ehrlichkeit Ihr Wert ist, dann kostet sie Sie manchmal Ansehen. Wenn Respekt Ihr Wert ist, dann kostet er Sie Tempo. Wenn Verantwortung Ihr Wert ist, dann kostet sie Sie Macht.
Genau deshalb werden Werte so gern entschärft. Man möchte das Gute, ohne den Preis zu zahlen.
Doch Menschen merken das. Bewerber merken das. Mitarbeitende merken das. Und sie reagieren. Mit Zynismus. Mit innerer Kündigung. Oder mit einem Satz im Foyer, der mehr Wahrheit enthält als jede Mitarbeiterbefragung.
Ich schreibe das nicht aus moralischer Überheblichkeit. Sondern aus eigener Erfahrung. In meinem Buch Führungskräfte als Hoffnungsträger beschreibe ich, wie oft Führung an genau diesem Punkt scheitert. Hoffnung entsteht nicht durch schöne Worte. Sie entsteht durch konsistentes Verhalten. Durch Entscheidungen, die nachvollziehbar sind. Auch wenn sie hart sind.
Und genau hier greift das Führungsprinzip Hope & Trust Leadership.
Hoffnung ohne Vertrauen ist naiv. Vertrauen ohne Hoffnung bleibt leer. Beides entsteht nur, wenn Führungskräfte bereit sind, Haltung zu zeigen. Nicht im Leitbild. Sondern im Moment der Entscheidung. Ich erlebe viele Geschäftsleiter, die erschöpft sind. Müde von Dauerkrisen. Verunsichert durch fehlende Planbarkeit. In solchen Phasen werden Werte oft als Schutzschild genutzt. Als Beruhigungsmittel. Nach innen und nach außen. Doch Werte sind kein Beruhigungsmittel. Sie sind ein Verstärker. Sie verstärken das, was ohnehin da ist. Ein Unternehmen ohne Haltung kann keine Führungskraft halten. Und es kann auch kein Vertrauen erwarten. Weder von Mitarbeitenden noch vom Markt.
Deshalb meine immer gleiche Frage an Führungsteams. Nennen Sie mir einen Ihrer Werte. Und dann nennen Sie mir die schwierigste, unpopulärste Entscheidung der letzten sechs Monate, die genau daraus entstanden ist. Wenn Ihnen nichts einfällt, dann findet Ihre Kultur nicht statt. Dann steht sie nur irgendwo geschrieben.
Vielleicht ist es Zeit, weniger zu formulieren und mehr auszuhalten. Einen Wert weniger. Aber den ernsthaft.
Denn Werte, die nichts kosten, kosten am Ende das Vertrauen. Und ohne Vertrauen bleibt von Führung nur Funktion.
Alles andere ist Bullshit.