„Alles gut“ – die tödlichste Lüge im Führungsalltag

Morgens um 8:17 Uhr. Ich gehe durch den Flur, auf dem Weg ins erste Meeting. Ein Kollege kommt mir entgegen. Wir nicken uns zu. „Alles gut?“ fragt er im Vorbeigehen. Ich nicke, lächle, sage automatisch: „Klar. Und bei dir?“ – „Alles prima!“, ruft er über die Schulter zurück, schon halb verschwunden.

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Alles gut?

Ganz sicher nicht. Mein Handy ist runtergefallen, das Kind hatte heute Nacht Fieber, mein Vater bekam gestern die Demenz-Diagnose. Und die Woche hat gerade erst angefangen.

Aber ich habe „alles gut“ gesagt. Wieder einmal.

Der Zwang zur Fassade

„Alles gut“ ist das neue „Lass mich in Ruhe“. Eine sprachliche Kapsel, die Nähe abwehrt, wo sie eigentlich dringend gebraucht würde. Gerade unter Führungskräften. Wir haben ein Arbeitsumfeld geschaffen, in dem Verwundbarkeit wie ein Systemfehler wirkt. Schwäche? Unerwünscht. Zweifel? Lieber stillschweigen. Krise? Wird durchgezogen.

Dabei leben wir in einer Welt, die uns permanent auf Kante fährt. Die Gallup-Studien zeigen: Die Erschöpfung bei Führungskräften ist strukturell, keine Ausnahme mehr. Trotzdem sitzen wir in Meetings, nicken klug, ziehen durch – und murmeln „alles gut“. Eine Farce.

Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich diesen Satz benutze. Zu oft. Weil es einfacher ist. Weil es niemandem zur Last fallen soll. Weil Offenheit im hektischen Alltag wie ein unpraktischer Luxus wirkt.

„Alles gut“ ist keine Frage, sondern ein Befehl

Wann hat zuletzt jemand ehrlich gefragt: „Wie geht es dir – wirklich?“ Und wann hast du ehrlich geantwortet?

„Alles gut?“ ist eine rhetorische Floskel. Sie erwartet keine Antwort. Im Gegenteil: Sie verlangt eine. Eine bestimmte. „Ja.“ Punkt.

In Wahrheit steckt hinter dieser Frage oft Überforderung. Wir wissen, was passieren könnte, wenn jemand den Deckel lupft. Und wir fürchten, dass wir dann zuhören, mitfühlen, Verantwortung übernehmen müssten. Also vermeiden wir es.

Aber was machen wir damit?

Nähe braucht Mut, kein Coaching

In meinem Buch Führungskräfte als Hoffnungsträger (Kapitel „Mit Hoffnung in die Zukunft“, S. 12) schreibe ich, dass Hoffnung kein Gefühl ist, sondern eine Entscheidung. Und Nähe ist es auch. Du kannst dich entscheiden, präsent zu sein. Menschlich. Nicht perfekt. Aber da.

Wir leben in einer Kultur, in der Menschen lieber Autopilot fahren, statt ehrlich zu sein. Wir verwalten statt zu gestalten. Wir verwechseln Professionalität mit Emotionsvermeidung. Dabei brauchen gerade Mitarbeitende echte Führungspersönlichkeiten, keine „alles-gut“-Roboter.

Die Führungskraft als Hoffnungsträger

Du kannst kein Hoffnungsträger sein, wenn du dich selbst verleugnest. Wenn du vorgibst, dass immer alles läuft. Wenn du dich an eine Rolle klammerst, die längst nicht mehr zu dir passt. Hoffnung beginnt da, wo du beginnst, dich selbst ernst zu nehmen.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Geschäftsführer aus dem Maschinenbau. Auf einem Spaziergang sagte er mir plötzlich: „Wenn ich ehrlich bin, habe ich Angst davor, dass alles zusammenbricht. Ich weiß gerade nicht, wo’s hingeht.“ Ich antwortete: „Das ist der erste Satz, den ich heute gehört habe, der mich berührt.“

In diesem Moment war mehr Führung als in allen KPI-Slides davor.

Was wäre, wenn …?

Was wäre, wenn du morgen früh beim Kaffee jemanden fragst: „Wie geht’s dir – ehrlich?“ Und dann wartest. Aushältst. Nicht sofort wegspringst.

Was wäre, wenn du bei dir selbst anfängst – und nicht reflexhaft „alles gut“ antwortest, wenn dich jemand fragt? Was wäre, wenn du dir erlaubst, zu sagen: „Heute geht’s mir durchwachsen. Aber ich bin da.“

Du wirst überrascht sein, was das auslöst. In deinem Team. In dir selbst.

Führung braucht Echtheit. Und Stille.

In „Führungskräfte als Hoffnungsträger“ spreche ich auch vom Einflussbereich als Kern jeder Veränderung (Kapitel „Hoffnungsträger fokussieren sich auf ihren Einflussbereich“, S. 34). Und genau da beginnt es: im Wort. Im Zuhören. Im Aushalten von Unperfektion.

Die großen Probleme unserer Zeit – Permakrise, Planbarkeitsverlust, Entscheidungslähmung – lassen sich nicht durch Business-Theater lösen. Aber durch Menschen, die wieder beginnen, sich wirklich zu begegnen.

Vielleicht ist „alles gut“ ja das gefährlichste Virus in unseren Führungsetagen. Es verhindert Nähe. Und Nähe ist die Voraussetzung für Vertrauen. Für Veränderung. Für echtes Leadership.

Und jetzt?

Wenn du jemanden kennst, der diesen Text gerade braucht: Schick ihn weiter.

Und wenn du dabei etwas bei dir selbst gespürt hast – teile das. Mit jemandem. Mit deinem Team. Oder mit mir.

Denn das Einzige, was noch lähmender ist als Krisen – ist die Einsamkeit, die entsteht, wenn keiner mehr ehrlich ist.

Und jetzt du: Wie geht es dir – wirklich?

Ben Schulz
Autor: Ben Schulz

Ben Schulz ist Unternehmer, Autor, Redner und Consultant für Geschäftsführer und Führungsteams in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Der Vorstand des Unternehmensberatung Ben Schulz & Partner AG legt den Schwerpunkt seiner Tätigkeit, gemeinsam mit seinem Team, auf die Schwerpunkte Unternehmensleitbildentwicklung, Kulturwandel, Führungskräfteentwicklung und strategischen Unternehmersparrings, bei denen es um die Steigerung von Perfomance geht.

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Buch: Führungskräfte als Hoffnungsträger

Durch Selbstreflexion und adaptive Strategien in Krisenzeiten bestehen


Der SPIEGEL-Bestseller für Unternehmer und Führungskräfte, die Verantwortung übernehmen und ihr Team als Hoffnungsträger erfolgreich durch jede Herausforderung navigieren wollen.



Projekt Mission Hoffnungsträger

Diese Reise zum Nordkap war eine 9-tägige Leadership-Expedition für Führungskräfte, die endlich aufhören wollen, wegzusehen. Kein Retreat. Kein Seminar. Keine Komfortzone. Sondern eine tägliche Challenge.