Es war einer dieser Samstagmorgen, an denen man am besten gar nicht aufsteht. Kennt ihr das? Man wacht auf – und merkt sofort: Die Laune ist im Keller. Noch bevor ich überhaupt die Füße aus dem Bett schwang, war da dieses Gefühl: Der genervte Teil in mir hatte sich schon aus der Hosentasche geschlichen und sich leise, aber bestimmt, auf den Fahrersitz meiner Tagesverfassung gesetzt.
Und es sollte ein Tag werden, an dem ich das deutlich spüren würde.
Im Badezimmer stellte ich fest, dass ein Teil der Armatur kaputt war. Nichts Dramatisches, aber doch nervig genug, dass ich wusste: Ich muss heute noch in den Baumarkt. Baumarkt am Wochenende. Allein der Gedanke daran ließ meinen inneren Augenbrauenmuskel zucken.
Ich beschloss, früh loszufahren, in der Hoffnung, der große Ansturm würde noch auf sich warten lassen. Doch kaum bog ich auf den Parkplatz, wusste ich: Volltreffer – aber im negativen Sinne. Der Parkplatz war randvoll. Menschen, wohin das Auge blickte. Einkaufswagen, genervte Gesichter, hupende Autos. Mein genervter Teil in mir war inzwischen nicht mehr zu überhören: „War der Lockdown nicht herrlich? Keine Menschen. Keine Geräusche. Einfach nur Ruhe.“
Ich atmete tief durch und ging trotzdem hinein. Drinnen besorgte ich die nötigen Ersatzteile, wartete geduldig – oder sagen wir, mechanisch – in der Schlange. Der Körper stand da, der Geist war längst im Fluchtmodus. Und dann passierte es.
Mitten im allgemeinen Samstagvormittags-Stress rief plötzlich eine Frau laut durch den Baumarkt: „Lassen Sie mich durch! Lassen Sie mich durch!“ Alle drehten sich um. Sie rannte nach draußen, kam kurz darauf wieder rein und rief, ebenfalls nicht gerade leise: „Ich habe einen Schmetterling in der Fliesenabteilung gefunden. Den musste ich retten!“
Stille. Verblüffung. Und dann übernahm mein genervter Teil endgültig das Kommando. Ohne Umweg über das Gehirn schossen mir die Worte aus dem Mund: „Ich glaube, hier ist jemand, der viel eher gerettet werden muss.“
Lachen um mich herum. Leichtes Schmunzeln. Und in mir? Scham. Entsetzen. Und die bittere Erkenntnis: Ben, das war großer Mist.
Ich, der meinen Kindern beibringt, wie man sich respektvoll verhält. Ich, der in Seminaren Führungskräften vermittelt, wie man in emotionalen Momenten handlungsfähig und souverän bleibt. Ich, der über Selbstführung spricht – und über den Raum zwischen Reiz und Reaktion. Genau diesen Raum hatte ich übersprungen. Vollgas, keine Bremse.
In meinem Buch beschreibe ich eine Methode, die ich „Omnibusmethode“ nenne. Sie hilft, in herausfordernden Situationen bewusst zu bleiben. Denn in uns sitzen viele Persönlichkeitsanteile – wie Passagiere in einem Bus. Da ist der Motivierte, der Ängstliche, der Zweifler, der Visionär, der Kindliche – und eben auch der Genervte. Und diese Passagiere rufen, diskutieren, kommentieren ständig. Manchmal werden sie laut. Und manchmal – wie an diesem Morgen – springen sie einfach nach vorne, reißen einem das Lenkrad aus der Hand und fahren los.
Doch der Bus fährt nicht besser, wenn der Genervte übernimmt.
Im Gegenteil. Der Fahrstil wird ruppig, impulsiv, manchmal verletzend.
Ich glaube, vielen von uns geht es so. Wir reflektieren am Ende des Tages, was wir gesagt oder getan haben, und denken: Das hätte klüger laufen können. Vielleicht hätte ich erst nachdenken sollen, bevor ich sprach. Oder atmen, bevor ich handelte. Doch genau das ist Selbstführung: Die Fähigkeit, sich selbst zu bemerken – und zu steuern.
Wir können andere Menschen nicht kontrollieren. Nicht die Frau mit dem Schmetterling. Nicht die volle Parkplatzsituation. Nicht die lange Schlange an der Kasse. Aber was wir kontrollieren können, ist unser eigenes Verhalten.
Die Omnibusmethode lädt dazu ein, sich selbst besser kennenzulernen. Zu wissen, wer da gerade im Inneren laut wird. Und sich bewusst zu entscheiden: Wer darf ans Steuer? Und wann ist es Zeit, einen Passagier freundlich, aber bestimmt, wieder auf seinen Platz zu verweisen?
Wir alle haben diese inneren Stimmen. Sie gehören zu uns. Doch wir entscheiden, ob wir ihnen das Steuer überlassen – oder ob wir als bewusste, reflektierte Fahrerin oder Fahrer unseres Lebensbusses unterwegs sein wollen.
Der genervte Teil wird immer mal wieder versuchen, sich vorzudrängeln. Aber heute weiß ich besser: Ich kann ihm zuhören – ohne ihn gleich fahren zu lassen.
Und beim nächsten Schmetterling in der Fliesenabteilung? Vielleicht lächle ich einfach – und freue mich, dass es Menschen gibt, die selbst an einem stressigen Samstag noch Augen für kleine Wunder haben.
Ben Schulz ist Sparringspartner für Geschäftsführer und Führungsteams in klein- und mittelständischen Unternehmen, wenn es um deren Strategie und Transformationsprozessen geht. Der Vorstand des Beratungshauses Ben Schulz & Partner AG legt den Schwerpunkt seiner Tätigkeit, gemeinsam mit seinem Team, auf die Schwerpunkte Unternehmensleitbildentwicklung, Kulturwandel, Führungskräfteentwicklung und strategischen Unternehmersparrings, bei denen es um die Steigerung von Perfomance geht.